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Kinder sind wie eine S-Bahn
Es ist schön mit kleinen Kindern im Haus zu wohnen.
Da hat man die nahe und ferne Zukunft vor Augen auch wenn die Gegenwart
manchmal nicht ganz so rosig ist. Kinder sind so fröhlich, so lebensbejahend
und so bewegungsfreudig. Ich schaue ihnen gerne zu, wenn sie auf Spielplätzen,
Wiesen und Gärten herumtoben. Weniger euphorisch wirkt es auf mich,
wenn der ultimative Bewegungskick über meinem Wohnzimmer stattfindet.
Trotz wackelnder Lampe, donnernden Dielen und einem gewissen Angstgefühl,
dass die Decke Stückchenweise herunterfallen könnte, besinne ich mich auf meine
Kinderfreundlichkeit, setze ein heiteres Gesicht auf und steige die Treppe hinauf.
Vorsichtig geklingelt, keine Reaktion – es ist zu laut. Nochmals stärker den
Klingelknopf gedrückt. Das schüchterne Ding Dong nimmt es mit dem
Bewegungslärm nicht auf – keine Reaktion! Ich klingle mehrmals zugegebenermaßen
etwas heftiger und merke wie sich eine leichte Aggression in meine Finger schleicht.
Jetzt nur nicht unfreundlich sein, ermahne ich mich selbst,
du willst hier nicht meckern, keine bewegungsfreudigen Kinder einschränken, nur
höflichst fragen, ob das Kind vielleicht nicht die gesamte Wohnung über mir als
Auslaufstrecke braucht oder –welch glückliche Idee– Mutter und Kind vielleicht
zum Körperbewegungstraining auf die vor dem Haus einsam daliegenden Wiesen
gehen könnten oder auf den Spielplatz um die Ecke?
Nach stakkatoartigem Drücken des Klingelknopfes öffnet man mir. Erstaunter
Blick, was will die denn? „Es ist ein bisschen laut, könnten Sie vielleicht das Kind
nicht über die ganze Wohnungsfläche rennen lassen? Vielleicht nur bis zum
Wohnzimmer oder auf dem Flur oder ….“. Mit bitterem, vorwurfsvollen Blick
-ich fühle mich wie ein Spielverderber und SpaßKiller– wird mir kurz angebunden
verkündet: „Mal sehen, aber das geht eigentlich nicht. Es ist ein Kind. Kinder
müssen sich bewegen und laut sein können.“ „Ja, aber…“ beginne ich zaghaft
„Wissen Sie, ich wohne sehr gerne in diesem Haus“, fährt die leidenschaftliche
Mutter fort. „Ich schätze die Hausgemeinschaft, die Hilfsbereitschaft und unsere
Nachbarschaft sehr.“ Das klang jetzt aber wirklich nett, ich überlegte auf welche
Hilfsbereitschaft und gute Nachbarschaft sie anspielte. Das war wohl an mir
vorbeigegangen. „Leider schränken Sie mich dabei ein. Ein einziger Mensch sorgt
dafür, dass ich mich in meiner Wohnung nicht wohl fühle.“
Man muss vielleicht noch erwähnen, dass ich die einzige Nachbarin bin, die unter
Mutter und Kind lebt. Trotzdem gehe ich in mich, Gott, sie fühlt sich in ihrer
Wohnung nicht wohl. Warum nicht? Weil ich mich in meiner auch nicht wohl fühle,
wenn Junior hin und her rennt? Sie fährt dramatisch fort: „Es muss machbar sein,
dass das Kind rennen und spielen kann. Er zuckt schon, wenn ihm etwas
runterfällt.“ Hier zucke ich, das Kind ist auf dem besten Weg einen psychischen
Schaden eine Runterfallneurose oder Schlimmeres zu bekommen. Mit 30 kann er
wahrscheinlich nichts mehr runterfallen sehen ohne ein hässlichen roten
Ausschlag zu bekommen oder einen Wutanfall. Wer weiß es.
Ich gehe in mich, versuche aber nochmals auf solche antiquierten Begriffe wie
gegenseitige Rücksichtnahme hinzuweisen. „Ich bin traurig“, sagt die Mutter
emotional -sehe ich da etwa eine Träne- „und wütend“ fährt sie kampfeslustig
fort, „dass ich und mein Kind so eingeschränkt ja sogar belästigt und bedroht
werden, und ich werde das nicht mehr schweigend hinnehmen.“
Genau genommen hat sie Letzteres ja nie getan, aber dass sie sich von meinem
Klingeln an Ihrer Tür belästigt und bedroht fühlt ist natürlich schlimm.
Wirklich schlimm! Unverhältnismäßig schlimm!
Man fragt sich, wohin das führen wird wenn man Mütter nicht mehr bitten kann,
ihre Kinder in der ihnen eigenen verständlichen Aktivität ein wenig zu bremsen,
damit sich auch andere in ihrer Wohnung wohl fühlen können. Ich schalte den
Rückwärtsgang ein –wenn‘s keinen Sinn hat, hat‘s keinen Sinn- sage ich mir,
hier hast du keine Chance. Diese beiden Menschen sind einfach zu wichtig,
als dass man ihnen so etwas Banales wie Rücksichtnahme zumuten könnte.
Ich verabschiede mich höflich.
„Wenn wir neben einer S-Bahn Linie wohnen würden müsste man sich auch
damit arrangieren“ ruft sie mir hinterher.
Seitdem versuche ich mir einzubilden das Kind sei eine S-Bahn.
Vielleicht klappt‘s ja so!
AST - Berlin, 12.10.20